Graduiertenkolleg 516
Kulturtransfer im europäischen Mittelalter

Ludmila Kvapilová

Vesperbilder in Bayern der Zeit von 1380 bis 1430 im Spannungsfeld von Import und einheimischer Produktion

Ludmila Kvapilová Böhmen und Bayern stellen im Mittelalter einen gemeinsamen Kulturraum dar. Prag ist unter der Regierung der Luxemburger, besonders Kaiser Karls IV., zum wichtigsten kulturellen Zentrum Mitteleuropas geworden. Seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ist mit einer erhöhten Zahl von importierten Werken aus Böhmen im bayerischen und fränkischen Raum und dem Einfluss auf die einheimische künstlerische Produktion zu rechnen. Ausgangspunkt meiner Dissertation ist die Beobachtung, dass einige Vesperbilder in Bayern der Frühzeit des Untersuchungszeitraumes eine isolierte Stellung innerhalb der zeitgenössischen Skulptur einnehmen. Ihre Singularität dürfte sich durch deren Import aus benachbarten Kunstzentren, vor allem aus Böhmen, erklären. Dort entstand in den 1370er ein neuer Pietàtypus, die so genannte horizontale Pietà. Ohne dieses wäre die Entstehung der ‚Schönen Vesperbildern‘  unvorstellbar. Zu den qualitätvollsten Skulpturen in Bayern gehören neben dem bisher vielfach in die kunsthistorische Diskussion einbezogenen Vesperbild aus der ehemaligen Benediktinerabteikirche in Seeon auch die Pietàs in der Münchner Frauenkirche, in der Dominikanerinnenkirche in Landshut, in der Kirche Mariä Himmelfahrt in Kirchdorf bei Haag oder in der Pfarrkirche St. Laurentius in Pfettrach bei Freising. Eine wichtige Gruppe stellen die Vesperbilder in Mittelfranken dar. Die drei Skulpturengruppen im Germanischen Nationalmuseum, in der alten Pfarrkirche in Allersberg und die Pietà in St. Georg in Dinkelsbühl gehören trotzt dem stark von böhmischen Werken beeinflussten Gestaltungssystem und der Motivik bereits der einheimischen fränkischen Produktion an. Besonders reich an Vesperbildern – jedoch wenig erforscht – sind das Inntal und der Chiemgau. Die Nachfrage nach diesen Bildwerken musste immens sein. Es ist zu bewundern, mit welchen Transportmöglichkeiten, die das Mittelalter hatte, sie auf großen Distanzen befördert werden konnten. So befinden sich heute Skulpturen, die sehr starke stilistische, formale und motivische Analogien zur Prager Bauhütte haben oder sogar aus dem Kalkstein vom Weißen Berg in Prag gefertigt wurden, in Österreich, Deutschland, Polen und Italien, Slowenien und Rumänien. Die Pietà ist in der erforschten Zeitspanne das am meisten verbreitete ikonografische Thema der Skulptur überhaupt. Die Zahl dieser Bildwerke überschreitet deutlich auch diejenige der erhaltenen zeitgleichen Madonnen. Die Arbeit beschäftigt sich ferner mit der Ikonografie, der Frage der Entstehung dieses neuen Sujets in der gotischen Skulptur und mit der Funktion der Vesperbilder.

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