Graduiertenkolleg 516
Kulturtransfer im europäischen Mittelalter

Ulisse Cecini

Die lateinischen Übersetzungen des Korans von Robert von Ketton (1143) und Markus von Toledo (1209-10)

Ulisse Cecini Die Begegnung und die Beziehungen der christlich-lateinischen Welt mit dem Islam im Mittelalter wurden traditionell auf zwei Gesichtspunkte hin betrachtet. Einerseits wurde die militärische Auseinandersetzung erörtert, andererseits wurde die Rolle hervorgehoben, die die Araber als Vermittler philosophischer, wissenschaftlicher und medizinischer Kenntnisse durch ihre Übersetzungen und Kommentare von wichtigen griechischen Autoren hatten, wie z.B. Aristoteles oder Galen, deren Werke dann von christlichen Übersetzern dem lateinischen Leser verständlich gemacht wurden.

Die Texte, die Gegenstand meiner Forschungen sind, befinden sich im Mittelpunkt dieser zwei Aspekte und verbinden sie. Zwar handelt es sich um Übersetzungen aus dem Arabischen ins Lateinische, nicht aber von einem astronomischen oder arithmetischen Traktat, sondern von einem religiösen Text – und zwar nicht irgendeinem, was für die übliche übersetzerische Tätigkeit der Zeit schon außergewöhnlich wäre, sondern vom Heiligen Buch der Muslime schlechthin. Außerdem wurde eine solche Tat von hochrangigen Geistlichen – wie Petrus Venerabilis, Abt von Cluny, im Fall von Robert von Ketton, und Rodrigo Jiménez de Rada, Erzbischof von Toledo, im Fall von Markus von Toledo – beauftragt, nicht nur aus reiner Neugier oder Wissensbegierde, sondern um technische und grundlegende theologische Kenntnisse zu erwerben, die an einem waffenlosen, aus Kontroversen gestalteten Kampf um die Gebiete und um die Seelen der Muslime beitragen sollten. Obwohl es sich um denselben zu übersetzenden Text – den Koran – und um ähnliche Ziele handelte, haben wir zwei verschiedene Auftraggeber und zwei verschiedene Gestalten von Übersetzern vor uns, mit unterschiedlicher Herkunft und sprachlichen Kenntnissen. Deshalb – und wegen des zeitlichen Abstands von 60 Jahren – bilden die Übersetzungen zwei als verschieden zu betrachtende Texte.

Wie wurde von den beiden unterschiedlichen Trägern der Kulturtransfer mittels der Übersetzungstätigkeit ausgeführt? Gelang es ihnen, eine möglichst wortgetreue Übersetzung anzufertigen, oder lassen sich aus den Texten die persönlichen Absichten der Übersetzer oder ihrer Auftraggeber ableiten? Wie haben sie Probleme wie innere Kohärenz, Literalität oder Sinntreue gelöst und wie haben sie spezifische islamische Begriffe wiedergegeben? Haben Sie auf schon christlich geprägte Begriffe zurückgegriffen und ihnen eine neue Auffassung gegeben oder haben sie es vorgezogen, Neologismen zu erfinden oder einige Begriffe gar nicht zu übersetzen?

Was ihre Wirkung betrifft, war die Übersetzung Roberts von Ketton von großer Wichtigkeit schon seit ihrem Entstehen, sie war die Basis von vielen späteren Übersetzungen und erhielt ihre editio princeps 1543 von Thomas Bibliander. Auch in der modernen Wissenschaft hat sie mehr Beachtung als die von Markus gefunden, obwohl sie oft, im Gegensatz zur anderen, eher als eine schlechte Paraphrase denn als eine richtige Übersetzung geschätzt wurde. Aufgrund der handschriftlichen Überlieferung von Markus' Text soll mit einem Vergleich zwischen den beiden Übersetzungen auch festgestellt werden, ob diese Beurteilung stimmt. Das Ziel meines Projektes ist also ein tieferes Verständnis der Absichten, Wege und Ergebnisse mittelalterlicher Christen bei dem Versuch, den Haupttext des Islam für sich greifbar zu machen, was unumstritten ein wichtiger Baustein in der Geschichte des Dialogs zwischen diesen beiden großen religiösen Kulturen war.

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