Coralie Rippl
Konstruktives Erzählen im europäischen Spätmittelalter: Gerichtsrhetorik in poetischen Texten ausgehend von Heinrich Kaufringer (Arbeitstitel)

Eine junge Gräfin bringt einen Ritter um, der sich vor der Hochzeitsnacht in der Maske des königlichen Bräutigams bei ihr eingeschlichen hatte und sie damit zur unwissentlichen Ehebrecherin gemacht hat. In fataler Verstrickung ergeben sich aus diesem ersten drei weitere Morde: wir hören von einer junkfraw, die aus Notwehr mordet, um den Schein ihrer Existenz wahren zu können. Sie ist und bleibt dabei – so macht uns der Erzähler glauben – eine unschuldige Mörderin. Dieser juristische Präzedenzfall, ein ebenso derber wie unerhörter Kasus, wird von dem spätmittelalterlichen Märenautor Heinrich Kaufringer (zwischen 1369 und 1404 urkundlich belegt in Landsberg bei Augsburg) auch erzählerisch als solcher umgesetzt. Nach allen Regeln des genus iudiciale, der rhetorischen Gerichtsrede, wie sie im Mittelalter in den antiken Rhetoriken des Quintilian, Auctor ad Herennium und Cicero präsent war, verteidigt der Erzähler die Protagonistin.
Kaufringers Gebiet ist die verzwickte Kasuistik. Er gibt seinen Erzählungen eine rhetorische Struktur nach dem Muster der argumentatio oder der verwandten disputatio, der im späten Mittelalter weitverbreiteten Form des Streitgesprächs. Man findet hier das Dispositionsschema der Gerichtsrede in der Dichtung als Erzählmodell umgesetzt: die forensische Rhetorik ist transformiert in poetisches Erzählen über 'besondere Fälle'. Diesem Transfer einer antiken Disziplin in volkssprachliche narrative Texte gilt es nachzugehen. Ernst Robert Curtius beschrieb ihn bereits für die Antike: aus der rhetorischen Schulübung wurden fiktive Gerichtsfälle, sogenannte controversiae, die das Mittelalter als Novellen rezipiert hat. Für den deutschen Kulturraum des Spätmittelalters ist er zunächst faßbar anhand der Texte Kaufringers. Mir geht es nun darum, zu fragen, ob und in welcher Weise das ins Erzählen transferierte Modell der Gerichtsrede in anderssprachigen Kulturräumen umgesetzt wurde. Äußert sich der Einfluß des rhetorischen Modells auf das Erzählen in den verschiedenen Ländern tatsächlich in der gleichen Weise, wie Curtius es national verallgemeinernd darstellt? Ist damit die Gerichtsrhetorik als dem europäischen Mittelalter gemeinsames Erbe der lateinischen Antike in den verschiedenen Erzählräumen ähnlich oder unterschiedlich rezipiert; ist dieses beschriebene Phänomen vielleicht ein Kulturimport, der über die mündliche Überlieferung der europäischen Novellistik in die verschiedenen Länder eingedrungen ist?
Die Tatsache, daß die Märenstoffe, die Kaufringer bearbeitet hat, sozusagen als Grundrisse in der spätmittelalterlichen Novellistik präsent sind, weil sie mündlich tradiert werden, macht eine vergleichende Untersuchung der Erzählungen Kaufringers mit den ihnen nahestehenden Parallelfassungen des französischen, englischen oder italienischen Sprachraums möglich. Hier ist außerdem interessant, ob sich die erzählten Fälle im jeweiligen juristischen Kontext verankern lassen. Es geht mir beim Vergleich der Fassungen um eine zunächst formale, genaue strukturelle Analyse der Texte, wie es sie für Kaufringer bisher kaum gibt. Auch die anderssprachigen Versionen sind vornehmlich zum Motivvergleich herangezogen worden, die narrative Struktur der Texte und eine Bestimmung ihres poetischen Potentials blieb außen vor.
Die Dissertation soll auf diese Weise Erkenntnisse liefern über das Phänomen eines 'konstruktiven Erzählens' in der Spätzeit des europäischen Mittelalters und der frühen Neuzeit. Es zeigen sich Parallelen zum geistesgeschichtlichen Horizont des Spätmittelalters, wo die Scholastik nach einem argumentativ-konstruktiven System arbeitet, mit der Gotik in der Kunstgeschichte ein konstruktiver Baustil vorherrscht. Der Humanismus verhilft den antiken Rhetoriken zu einem verstärkten Aufleben an den Universitäten, es gibt im deutschen Kulturraum Beispiele für eine direkte Rezeption des gerichtlichen Streitgesprächs in der Literatur.
Die erweiterte Fragestellung der Arbeit ist, wie sich das Erzählen in den verschiedenen europäischen Kulturräumen dazu verhält, und zwar im Falle meiner Untersuchung eben nicht die hohe höfische Literatur, die Großform der Romane, sondern die europäische Versnovellistik.
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